Von der DDR in die Bergwelt Tadshikistans
Rainer Bauch und Edgar Nönnig
Dieser Bericht erschien
im:
Alpenvereinsjahrbuch
Berg 98, Seite 250 bis 258. Herausgegeben vom Deutschen und
Österreichischen
Alpenverein und vom Alpenverein Südtirol - München, Innsbruck,
Bozen.
Im Sommer 1988 brachen wir, eine kleine
Gruppe Bergsteiger, für mehr als fünf Wochen in das über
5.000 Kilometer von unserer Heimat entfernte mittelasiatische Hochgebirge
Tadshikistans, den Pamir, auf. Dieses Gebirge, mit Gipfelhöhen von
über 7.000 Metern, faszinierte in der Vergangenheit schon immer viele
Abenteurer aus aller Welt. Und für Bergsteiger der ehemaligen DDR
war es ohnehin das Nonplusultra der möglichen Bergunternehmungen.
Doch Privatreisen in die zur einstigen Sowjetunion gehörende Bergregion
waren zu jener Zeit nur unter Umgehung gesetzlicher Vorschriften und Eingehung
großer Risiken durchführbar. Es bedurfte daher einiger Anstrengung,
um dieses Ziel schließlich zu erreichen.
Der Pamir, zwischen dem 37. und 40. Grad
nördlicher Breite und dem 70. und 76. Grad östlicher Länge
gelegen, befindet sich im Grenzgebiet der jetzigen GUS-Staaten (damals
Sowjetrepubliken) Tadshikistan und Kirgistan zu Afghanistan, Pakistan und
China. Umgeben von weiteren bekannten Hochgebirgen und Bergketten Mittelasiens
stellt er eine Art Gebirgsknoten dar. Von ihm strahlen die höchsten
und mächtigsten Gebirge dieser Erde nach allen Richtungen aus; nach
Norden und Nordosten zum Alai und Tienschan, nach Osten zum Altin Tagh
und Kunlun, nach Süden und Südosten zum Karakorum und Himalaja
sowie nach Südwesten zum Hindukusch. Im Westen, eingebettet zwischen
der Serawschanischen und Hissarischen Kette, befindet sich noch das selbständige,
wenn auch flächenmäßig relativ kleine Fan-Gebirge. Das
Hochland des Pamir (der Name ist türkischer Herkunft und bedeutet
„Kalte Steppenweide“) wird wohl auch deshalb als das Dach der Welt bezeichnet.
Der größte Teil des Pamir befindet
sich auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion; in Tadshikistan, in
Usbekistan und Kirgisien. Hier ragen aus gewaltigen Gebirgsketten drei
Berge empor, die sich über die 7.000-Meter-Grenze erheben. Geordnet
nach ihrer Höhe sind dies: Pik Kommunismus (7.495 m) im Schnittpunkt
der Akademie- und Peter-I.-Kette, Pik Lenin (7.134 m) im Transalai und
Pik Korshenewskaja (7.105 m) in der nördlichen Akademiekette.
Das von uns angepeilte Ziel war die Besteigung des Pik Korshenewskaja im zentralen und höchsten Teil des Pamir. Doch verschiedene Umstände zwangen uns vor Ort dazu, auf ein anderes Gipfelziel auszuweichen. Ein Hauptgrund war der schwierige und hindernisreiche Anmarschweg. Ausgetretene Trekkingpfade, wie sie etwa im Himalaja vorhanden sind, existierten hier nicht. Langwierige Ausweichmanöver über oft ausgesetzte und steinschlaggefährdete Bergflanken brachten uns zeitlich immer mehr in Verzug, so daß schließlich auf das ursprüngliche Gipfelziel verzichtet werden mußte.
Zum Ausgangsort bestimmten wir Duschanbe,
die Hauptstadt der tadshikischen Hochgebirgsrepublik. Von dort aus wurden
hunderte Kilometer Gebirgsvorland durchquert, eine Region, in der zahlreiche
Gebirgskämme in ihrer Großartigkeit und ihren Dimensionen den
Westalpen um nichts nachstehen. Bis ins letzte Kischlak (arab.: Dorfsiedlung)
des teils besiedelten, teils entvölkerten Tals des Gletscherflusses
Obichingou drangen wir vor, bevor die eigentliche Bergtour zu den Hochregionen
des Pamir beginnen konnte.
Blick auf die Häuser von Roga im oberen Obichingou-Tal. Dieses Kischlak bzw. Bergdorf beherbergte damals etwa 4 bis 5 Haushalte. 20. Juli 1988 | In Roga mieteten wir drei Packesel, die unsere gesamte Ausrüstung bis nach Paschimgar, einem heute nicht mehr bewohnten Bergdorf, transportierten. Einer der Esel wird gerade beladen. 20. Juli 1988 |
Unsere Anmarschroute durch das Obichingou-Tal
und die Trekkingtour über den Sugran-Paß bis zur Ortschaft Irget
bzw. Muk im Muksu-Tal wird zwar von Ausländern recht selten begangen,
ist aber gerade bei deutschen Bergsteigern nicht ganz unbekannt. Bereits
im Jahre 1913 bereiste der bekannte Pamirforscher und Bergsteiger Willy
Rickmer-Rickmers mit einem Expeditionsteam des damaligen Deutschen und
Österreichischen Alpenvereins das Gebiet. Den Hauch der Geschichte
spürten wir insbesondere im Obichingou-Tal immer wieder. Oft schien
es, als sei die Zeit dort stehengeblieben. Die Resultate der stalinistischen
Bevölkerungspolitik waren in Form vieler zerstörter und heute
unbewohnter Bergdörfer sichtbar. Eine zaghafte Neubesiedelung dieser
Täler hat aber in den letzten Jahren wieder eingesetzt. So kam es
in einigen Bergdörfern zu interessanten Begegnungen mit der dort ansässigen
Bevölkerung, deren uns fremde Lebensweise wir ein wenig kennenlernten.
In den siebziger und achtziger Jahren
waren noch Bergsteiger- und Geologengruppen aus Weimar und Magdeburg in
der Region zwischen den Gletscherflüssen Obichingou und Muksu tätig.
Weitere Unternehmungen sind zumindest uns nicht bekannt. Obwohl keiner
unserer Teilnehmer zuvor in dieser Region des Pamir unterwegs gewesen war
und die Gegend kannte, durchquerten wir in der Jahreszeit, als die Gletscherflüsse
stark wasserführend waren, ein höchst unwegsames wie unbekanntes
Gelände. Lediglich die Autoren des vorliegenden Beitrages hatten 1986
das Fan-Gebirge besucht, ein selbständiges Hochgebirge am westlichen
Rand des Pamiro-Alai, wo u.a. zwei Gipfel von über 5.000 Meter Höhe
(Samok, 5.070 m, und Pik Energie, 5.113 m) bestiegen werden konnten.
Die Bergfahrt 1988 erfolgte mit schwerstem
Gepäck, mit Kletterausrüstung und Verpflegung für mehrere
Wochen. Auf Sherpas oder Träger, wie beispielsweise in Nepal und Pakistan
üblich, konnten wir aber nicht zurückgreifen. Abgesehen davon,
daß in den Dörfern des Pamir kein organisiertes Führer-
bzw. Trägerwesen existierte, war es zudem ohne autorisiertes russisches
Begleit- oder Überwachungspersonal verboten, abgelegene Bergregionen
zu betreten. So waren wir unsere eigenen Gepäckträger und mußten
anfangs über 45 Kilogramm an Ausrüstung und Proviant pro Person
transportieren. Eine Last, die uns vor allem zu Beginn der Bergtour erhebliche
Schwierigkeiten bereitete und viel Kraft kostete. Doch dafür war die
Landschaft unterwegs so menschenleer und unberührt, daß nach
Verlassen des letzten bewohnten Bergdorfes uns lediglich zwei Gruppen Russen
bzw. Usbeken begegneten.
Der Weg bis zum Erreichen des 6.330 Meter
hohen Gipfels Pik Radianow (in der östlichen Peter-I.-Kette), dessen
Besteigung schließlich den Höhepunkt der Unternehmung bildete,
war lang, anstrengend und nicht ungefährlich. Es mußte das Kirgis-Ob-Tal
mit seinen überraschenden Hindernissen und Nebenflüssen bewältigt
werden. So konnten wir beispielsweise den Igan nur mittels selbstinstallierter
Seilbrücke überqueren. Es galt weiterhin, einen über 4.300
Meter hohen Paß zu finden und zu überschreiten, wobei unser
Weg ständig entlang steinschlaggefährdeter Rinnen und über
steile Berghänge führte. Drei Gletscher mit ihren Schönheiten,
aber auch Tücken waren zu begehen. Hierbei bereiteten uns insbesondere
die zwei Eisbrüche des Schini-Bini-Gletschers mit hoch aufragenden
Seraks erhebliche Schwierigkeiten. Wie so mancher Vorgänger machten
auch wir die Erfahrung, daß viele Anmarschwege im zentralen Pamir
weit schwieriger zu bewältigen sind als manch hoher Gipfel jenseits
der 5.000-Meter-Marke.
Ständig umgeben waren wir jedoch
von einer einzigartigen Naturkulisse des geologisch noch relativ jungen
Gebirges, das durch gewaltige Erosionen gezeichnet ist. Innerhalb kurzer
Zeit durchlebten wir das sommerliche Wüstenklima ebenso wie die Kältezonen
der Gipfelwelt.
Erst heute, nach der politischen Wende
in Ostdeutschland, kann in dieser Form über die damalige Bergunternehmung
berichtet werden. Zu DDR-Zeiten war dies nicht möglich, denn schließlich
handelte es sich um keine offizielle Bergfahrt, auch wenn das Unternehmen
von einigen verständnisvollen Sportfunktionären aus Altenburg
unterstützt wurde. Für eine offizielle Expedition, wie sie vor
allem westeuropäische Bergsteiger kennen, bestand trotz der scheinbar
engen Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion keine legale Grundlage.
Der Pamir konnte also, abgesehen von wenigen
Unternehmungen der damaligen DDR-Nationalmannschaft Alpinistik und sogenannter
Auswahlmannschaften des DWBO (Deutscher Verband für Wandern, Bergsteigen
und Orientierungslauf der DDR), nur illegal erreicht werden. Eine Möglichkeit
bestand darin, mittels Durchreise- bzw. Transitvisum von Polen oder der
früheren CSSR kommend, sowjetisches Territorium zu betreten. Auf Anfrage
erklärte man, das Land wieder in Richtung Rumänien verlassen
zu wollen. Doch in der Sowjetunion angekommen, wurden sogleich Vorbereitungen
für die Weiterreise ins Landesinnere getroffen. Sicher konnte man
sich aber erst fühlen, wenn die abgelegenen Gebirgsregionen erreicht
waren. Die Gefahr, unterwegs von örtlichen Behörden aufgrund
fehlender Aufenthaltsgenehmigungen erkannt und zurückgeschickt zu
werden, bestand während der Anreise fast ständig. Oft jahrelange
Vorbereitungen standen dabei auf dem Spiel. Wer aber damals von der DDR
aus in ein vergletschertes Hochgebirge vordringen wollte, das in den Staaten
des ehemaligen Ostblocks nur in der Sowjetunion zu finden war, mußte
solche Risiken eingehen.
Um ohne Schwierigkeiten bis nach Tadshikistan
zu gelangen, buchten wir beim damaligen staatlichen Reisebüro der
DDR eine einwöchige Individualreise nach Duschanbe, mit Aufenthalt
im dortigen Intouristhotel „Tadshikistan“. Während dieser Zeit waren
wir normale Touristen, auch wenn wir uns durch Gepäck und Bekleidung
erheblich von solchen abhoben.
Zwei Tage vor dem offiziellen Rückreisetermin
verließen wir unbemerkt am frühen Morgen das Hotel und setzten
uns in Richtung Pamir ab. Für die Mitarbeiter von Intourist, dem sowjetischen
Reiseveranstalter, waren wir von nun an unauffindbar. Es folgte eine abenteuerliche
Reise, zunächst von Duschanbe über Obigarm bis nach Paschimgar
ins obere Obichingou-Tal. Als Transportmittel diente uns ein Linienbus
bis Obigarm, mehrere Lastkraftwagen bis zur Ortschaft Mionadu, ein russischer
GAS-Jeep mit Chauffeur bis Roga und schließlich drei Lastesel bis
zum ehemaligen Bergdorf Paschimgar. Die kürzesten Anmarschwege, auf
denen sich die offiziell agierenden Alpinistengruppen in der Regel bewegten,
wurden von uns aus Sicherheitsgründen gemieden. Wir wählten eine
selten begangene Route in die Hochregionen des Zentralpamir.
Unsere Gruppe bestand aus insgesamt fünf
Teilnehmern. Neben den Autoren Edgar Nönnig und Rainer Bauch von der
früheren DWBO-Sektion „Bergsteigen“ der BSG (Betriebssportgemeinschaft)
von Lokomotive Altenburg waren dies: Dr. Elisabeth Stempel aus Altenburg,
einziger weiblicher Teilnehmer und unsere Ärztin, Dr. Klaus Müller
aus Königshain bei Mittweida und Axel Franke aus Leipzig.
Die Besteigung des Pik Radianow
Rainer Bauch
Am 5. August 1988 war endlich das Basislager
auf dem oberen Schini-Bini-Gletscher erreicht. Wir befanden uns in einer
Höhe von etwa 4.800 Metern, der eisgepanzerten Nordflanke des Pik
Radianow gegenüber. Wenig später standen auch unsere beiden Bergzelte
auf der Rand- bzw. Seitenmoräne des Gletschers.
Vierzehn anstrengende Tagesmärsche
(einen Ruhetag nicht mitgerechnet) vom Ausgangslager Paschimgar, den Kirgis-Ob
entlang bis zum Dawlachan- bzw. Finsterwalder-Gletscher, weiter über
den nördlichen Sugran-Paß (4.313 m) zum Sugran- bzw. Brückner-Gletscher
und den ganzen Schini-Bini-Gletscher aufwärts, lagen nun hinter uns.
Schon am nächsten Morgen sollte der
Aufstieg zum Pik Radianow beginnen. Als einzige Route kam die Nordflanke
in Frage, wo sich im mittleren Bereich ein mächtiger Eisbruch befindet.
Uns war klar, daß wir dort auf die Hauptschwierigkeiten treffen würden.
Unsere Aufstiegsroute (Nordweg) zum Gipfel des 6.330 m hohen "Pik Radianow". Links im Vordergrund der "Pik Krupskaja". Diese Aufnahme entstand am 9. August 1988, während der Besteigung des 5.621 m hohen „Birs“. |
Am 6. August wurden wir zeitig (6.00 Uhr
morgens) von Edgar geweckt. Er war wie so oft als erster munter. Aus dem
Schlafsack zu kriechen, kostete besonders am heutigen Tag Überwindung,
denn es war noch empfindlich kalt. Immerhin zeigte das Thermometer auf
minus 15 Grad Celsius. Obwohl für den Aufstieg alles vorbereitet war,
verging noch eine geraume Zeit, bis wir endlich aufbrechen konnten.
Vom Basislager aus mußte zunächst
der hintere Schini-Bini-Gletscher bis unter den Paß (zwischen dem
6.006 Meter hohen Pik Krupskaja und unserem Berg) gequert werden. Erst
dort begann der eigentliche Aufstieg, der in südlicher Richtung zunächst
über einen breiten, mit Firn bedeckten Bergrücken führte.
Wir kamen recht gut voran. Axel und Klaus wechselten sich hier in der Führungsarbeit
ab. Die Sonne erreichte uns noch nicht und somit war auch der Firn relativ
fest.
Auf einem Absatz in etwa 5.200 Meter Höhe
wurde erstmals gerastet. Von hier aus eröffnete sich uns ein herrliches
Panorama. Wir erkannten den nicht weit entfernten Pik Korshenewskaja (7.105
m), den Pik Kommunismus (7.495 m), den Pik der Vier (6.300 m) und weitere,
östlich von unserem Standort befindliche Gipfel des Zentralpamir.
Schon wenige Höhenmeter weiter wurde
die Firnwand immer steiler. Der Blick nach oben verhieß nichts Gutes.
Dort spiegelte sich die Sonne im abweisendem Blankeis. Hier hätte
der weitere Aufstieg in Fallinie die Bewältigung einer steilen und
in ihrer Schwierigkeit wie Länge nicht einschätzbaren Eiswand
bedeutet. Mit unserer eher dürftigen Ausrüstung ein viel zu riskantes
Unternehmen. Wir waren also gezwungen, uns etwas einfallen zu lassen.
Auf etwa 5.300 Meter Höhe querten
wir deshalb nach rechts, dem dortigen Eisbruchgelände zu. Riesige
Eistürme ragten hier aus unberührtem Firnschnee empor. Steile
Firnflanken endeten auf vorstehenden Eisabsätzen. Es war jetzt unerläßlich,
sich anzuseilen, denn ständig drohten Spaltenstürze.
Vorsichtig bewegten wir uns durch dieses
Labyrinth aus Firn und Eis. Hier spurte anfangs Edgar, ich löste ihn
später ab. Der Weiterweg wurde immer schwieriger und anstrengender.
Doch nicht nur die Schwierigkeiten und Gefahren, auch die Orientierungsprobleme
nahmen zu.
An mächtigen Eisabbrüchen vorbei
ging es ständig höher. Schon bald wurde die Firnauflage infolge
der Sonneneinstrahlung immer weicher, was den weiteren Aufstieg wesentlich
erschwerte. Bald wühlten wir uns nur noch durch hüfttiefen, mehligen
Schnee aufwärts, ohne richtigen Halt zu finden.
Gegen 15.30 Uhr wurde schließlich
eine Höhe von etwa 5.600 Meter erreicht, wenn man die gegenüberliegenden
Gipfel Birs (5.621 m) und Pik Weimar (5.613 m) als Richtwert benutzte.
Ein riesiger Eisabbruch, leicht überhängend, versperrte hier
den Weiterweg. Doch waren wir froh, uns nach den Anstrengungen ein wenig
ausruhen zu können. Hinter uns lagen siebeneinhalb Stunden Aufstieg
im teilweise schwierigen Eisbruchgelände. Auch sollte hier, im Schutz
der großen Eiswand, unser Hochlager entstehen.
Längere Zeit suchten wir dann nach
einer weiteren Aufstiegsmöglichkeit, fanden aber nur eine steile Eisrinne
links neben dem Eisabbruch. Diese Rinne endete nach etwa 25 Metern auf
einem Absatz, der von unserem Standort aus nicht genau zu erkennen war.
Uns blieb jedoch nichts weiter übrig, als die Durchsteigung zu versuchen.
Eine andere machbare Route gab es nicht.
Während Elisabeth, Axel und Klaus
den Lagerplatz für unsere Zelte herzurichten begannen, stieg ich,
von Edgar gesichert, in die Eisrinne ein. Im unteren Bereich ging es recht
gut, denn hier befand sich noch weicher, angewehter Schnee. Weiter oben,
im festen Eis, setzte ich eine Eisschraube als Zwischensicherung. Hier
besaß die Eisrinne eine Neigung von etwa 70 Grad. Doch größere
Schwierigkeiten bereitete der Aufstieg nicht, und schon bald war der Absatz,
ein ziemlich exponierter Standort, erreicht. Wieder befand ich mich mitten
in einem Eisbruch und tastete deshalb vorsichtig mit dem Pickel nach möglichen
Spalten. Direkt vor mir, zwischen dem Absatz und einem Eisabbruch, klaffte
eine riesige, teils überwächtete Spalte. Vorsicht war also angesagt.
An geeigneter Stelle wurde schließlich
ein großer Firnhaken zur Selbstsicherung befestigt, und Edgar konnte
nachkommen. Am Seil gesichert, setzten wir dann den Aufstieg nach rechts
durch einen gewaltigen Eiskanal fort. Die riesigen, bis zu zwanzig Meter
hohen Eiswände beiderseits endeten erst nach etwa 300 Metern auf einer
breiten, ebenen Firnfläche (Plattform), von wo aus der weitere Aufstieg
über einen steilen Firnhang einzusehen war. Irgendwie mußte
es morgen dort aufwärts gehen. Der Zugang zum Gipfel war jedenfalls
gefunden.
Mit der Abendsonne stiegen wir zurück und seilten uns zuletzt an einer Reepschnur, die am Firnhaken befestigt wurde, durch die Eisrinne zu den anderen ab. Wir waren total erschöpft. Elisabeth, Axel und Klaus hatten in der Zwischenzeit damit begonnen, das Hochlager im Schutz der großen Eiswand herzurichten. Zu diesem Zweck mußten die Zeltplätze erst vorbereitet, also vom Schnee freigeschaufelt werden. Gegen 18.00 Uhr standen endlich unsere beiden Zelte, 5.600 Meter über dem Meeresspiegel, hoch über dem Schini-Bini-Tal.
Tags darauf, am 7. August, weckte uns Edgar
um 6.30 Uhr. Doch keiner verspürte die rechte Lust zum Aufstehen.
Ich hatte, auch wegen des Sauerstoffmangels im Zelt, ohnehin kaum geschlafen.
Überhaupt kamen wir nur sehr schwer
in Gang. Die Kälte am frühen Morgen machte uns zusätzlich
zu schaffen. Dann Kochen, ein dürftiges Frühstück, Rucksäcke
packen. Hier, in über 5.500 Metern Höhe, kostete fast jeder Handgriff
Überwindung. Selbst das Anziehen der Bergschuhe wurde zur Schwerstarbeit.
Unser selbst zusammengestelltes Müsli,
bestehend aus Milchpulver, Haferflocken, Rosinen, Traubenzucker, Nüssen
und einer Prise Salz, hatte schon seit einiger Zeit einen unangenehm bitteren
Nachgeschmack. Am schlimmsten war jedoch, daß das Teewasser nicht
warm werden wollte.
Unser Hochlager in der
Nordflanke des "Pik Radianow" auf einer Höhe von ca. 5.600 m.
06. August 1988 |
7. August 1988 - Auf
der nur wenige Meter neben dem firnbedeckten Gipfel des "Pik Radianow"
befindlichen Felszacke. Hier entdeckte Axel unter einem Steinmann die Gipfelnotiz
der Erstbesteiger aus dem Jahr 1976. Auf dem Foto von oben:
Edgar Nönnig, Axel Franke, Elisabeth Stempel und Rainer Bauch. |
Nur mit einem ganz leichten Rucksack (in
dem sich die Kletterausrüstung, das Erste-Hilfe-Paket einschließlich
Rettungsdecke sowie die Verpflegung befand) wurde gegen halb zehn Uhr aufgebrochen.
Wir kletterten zunächst an der am Vortag befestigten Reepschnur (Fixseil)
die Eisrinne unmittelbar neben unserem Hochlager aufwärts. Weiter
ging es dann auf dem bereits erkundeten Weg durch den Eiskanal bis zur
Plattform. Hier begann für uns wieder Neuland.
Als erster querte Klaus den vor uns befindlichen
Firnhang und steuerte, leicht ansteigend, auf das gegenüberliegende
Eisbruchgelände zu. Ab etwa 5.800 Meter Höhe übernahm Edgar
die Führung. Er spurte durch tiefen, aufgeweichten Firn und hielt
sich dabei ständig links vom Eisbruch. Die Firnwand selbst wies hier
eine Neigung von stellenweise 55 bis 60 Grad auf. Es wurde immer anstrengender,
und ich versuchte, den für mich günstigsten Rhythmus zu finden.
Mit langsamen Bewegungen schaffte ich an die fünfzehn Schritte hintereinander
und mußte danach, auf den Eispickel gestützt, eine kurze Verschnaufpause
einlegen. Das Zählen der Schritte nahm jetzt meine ganze Konzentration
in Anspruch.
Oberhalb des Eisbruchs hielten wir uns
leicht rechts, bis schließlich gegen 14.00 Uhr der breite Radianow-Sattel
in schätzungsweise 6.100 Meter Höhe erreicht wurde. Wir befanden
uns, wie sich später herausstellte, zwischen dem ersten Gipfel des
Pik Oschanin (Höhe unbekannt) und dem Pik Radianow. Der immerhin 6.006
Meter hohe Pik Krupskaja am Talschluß des Schini-Bini war jedenfalls
wesentlich niedriger als unser augenblicklicher Standort. Auch konnte man
über diesen Gipfel hinwegschauen und entfernt die Berge der Transalai-Kette,
im Osten die der Akademie-Kette erkennen.
Nach ausgiebiger Rast wurde schließlich
der etwa 250 bis 300 Meter breite Radianow-Sattel (erneut durch knietiefen
Schnee) überquert. Hierbei orientierten wir uns nach rechts, westwärts,
um den dort aufragenden Pik Radianow über seinen breiten Nordostgrat
zu besteigen. Den östlich vom Sattel befindlichen ersten Gipfel des
Pik Oschanin schätzten wir wesentlich niedriger ein.
Plötzlich zogen über uns dicke
Wolken auf und es wurde empfindlich kalt. Spätestens hier bestätigte
sich, daß wir die wärmenden Daunenjacken nicht umsonst eingepackt
hatten.
Über den teilweise vereisten, jedoch
breiten und nur wenig schwierigen Nordostgrat stiegen wir dann weiter aufwärts.
Bis zum Gipfel mußten noch etwa 200 Höhenmeter bewältigt
werden. Über den Grat blies ein ziemlich starker und eiskalter Wind.
Dieser letzte Anstieg fiel mir persönlich relativ leicht. In einer
Schneemulde unmittelbar vor dem überwächteten Gipfel entledigten
wir uns unserer Rucksäcke. Hier traf ich gemeinsam mit Axel ein, der
sich noch auf seinen Rucksack setzen und kurz ausruhen wollte.
Als ich den höchsten Punkt des Pik
Radianow betrat, warteten dort bereits Edgar und Klaus. Wir gratulierten
uns gegenseitig. Nach etwa zehn Minuten folgte Axel; nach weiteren fünf
Minuten Elisabeth. Gegen 16.30 Uhr standen alle auf dem Gipfel. Somit hatten
wir unser Ziel, zumindest einen Berg von über 6.000 Meter Höhe
zu besteigen, doch noch erreicht. Der anschließende Rundblick vom
Gipfel war traumhaft. Nur Berge, soweit man sehen konnte.
Etwa 2.000 Meter unter uns schlängelte
sich der Schini-Bini-Gletscher mit seinen beiden Eisbrüchen, die uns
beim Aufstieg zum Basislager solche Schwierigkeiten bereitet hatten, abwärts.
Im Tal südlich des Gipfels erkannten wir den kleinen Radianow-Gletscher.
Dieser trifft nach etwa vier bis fünf Kilometern auf den Sugran-Gletscher.
Uns direkt gegenüber, in östlicher
Richtung, ragte steil und abweisend der etwa 6.400 Meter hohe Hauptgipfel
des Pik Oschanin aus dem Hauptkamm empor. Die gewaltigen Eisbalkone und
Wächtenhänge an diesem Bergmassiv wirkten ziemlich abschreckend.
Blickt man vom Gipfel des Pik Radianow westwärts über die abfallende
Kammlinie, werden dort mächtige Schneeüberwehungen sichtbar.
Diese Wächtenhänge gelten allgemein als Ursprung der Gletscher.
Südwestliche Winde wehen den Schnee über die Kämme, wo er
sich sammeln kann.
Wir erkannten von unserem Standort deutlich,
daß sämtliche Gipfel zu beiden Seiten des Schini-Bini-Gletschers
niedriger sind als der Pik Radianow. Er ist hier die höchste Erhebung;
gefolgt vom Pik Krupskaja (6.006 m), vom Birs (5.621 m), vom Pik Weimar
(5.613 m), vom Pik Moskwin (5.549 m) und vom Pik Fersmann (5.500 m).
Auf einer etwas tiefer liegenden Felszacke
entdeckte Axel unter einem Steinmann die Gipfelnotiz der Erstbesteiger.
Dieser Notiz zufolge wurde der 6.330 Meter hohe Pik Radianow von einer
grusinischen Alpinistengruppe unter D.D. Dangadse im Rahmen einer Überschreitung
am 29. Juli 1976 erstmals betreten und als „Pik 6110“ bezeichnet. Die damalige
Höhenangabe (6.110 Meter) war jedoch falsch.
Auf einer Landkarte des betreffenden Gebietes
(Peter-I.-Kette und nördliche Akademiekette), angefertigt in der ehemaligen
CSSR, wird der Pik Radianow mit einer Höhe von 6.330 Metern angegeben.
Nach Auswertung weiterer Landkarten (aus der damaligen Sowjetunion und
von Georg Renner aus Weimar) sowie unserer Kenntnisse vor Ort gelangten
wir schließlich zu dem Ergebnis, daß die CSSR-Landkarte der
Wirklichkeit am nächsten kommt. Hieran merkt man bereits, daß
dieser Teil des Pamir-Gebirges noch relativ unbekannt ist und viele Gipfel
unbestiegen sind. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn die von uns durchgeführte
Besteigung des Pik Radianow 12 Jahre danach die zweite Besteigung überhaupt
war und gleichzeitig eine Erstbegehung der Nordroute (Nordweg) darstellt.
Auch wir hinterlegten eine Gipfelnotiz, versehen mit unseren Namen, der
Herkunft und Kurzbeschreibung der Aufstiegsroute.
Nach über einer Stunde Aufenthalt erfolgte der Abstieg vom Gipfel. Unsere eigenen Spuren erleichterten hierbei die Orientierung. Auch kamen wir zügig voran. Gegen 19.30 Uhr trafen wir wieder im Hochlager unter der großen Eiswand ein.
Die letzte Nacht auf 5.600 Meter (vom 7. zum 8. August) hatte ich erneut schlecht geschlafen. Man konnte es wohl eher als ein Ruhen bezeichnen. Ab etwa 9.00 Uhr unternahmen wir erste Versuche, aus den Schlafsäcken zu kriechen. Es war furchtbar kalt, denn unser Lager befand sich noch immer im Schatten. Zum Frühstück gab es wie üblich mit Trockenmilch zubereitetes Müsli. Ich konnte dieses Zeug nicht mehr sehen und kostete nur etwas, um meinen Magen zu beruhigen. Erst zur Mittagszeit hatten wir das Hochlager vollständig abgebaut und stiegen zurück zum Basislager.
In Abhängigkeit von der Höhe des Berges und der Gefahren im Eisbruch schätzten wir den alpinen Schwierigkeitsgrad der von uns erstbegangenen Route bis zum Gipfel des Pik Radianow mit mindestens 4 A/B ein. Hierbei orientierten wir uns an der damals gültigen sechsteiligen sowjetischen Skala.
Einen Tag später, am 9. August, wurde
durch Edgar, Axel und Klaus noch der 5.621 Meter hohe Birs, ebenfalls vom
oberen Schini-Bini-Gletscher aus, bestiegen, bevor wir am 10. August endgültig
unser Basislager räumten.
Der Rückmarsch erfolgte über
den schwierigen und gefährlichen Schini-Bini-Gletscher, durch das
Sugran-Tal und von dort über den Bel-Kandou-Paß (3.300 m) zum
Bergdorf Muk im Muksu-Tal. Für diese Strecke, an die vierzig Kilometer
durch teils unwegsames Gelände, benötigten wir vier Tage. Dieser
Umstand ist wohl auch darauf zurückzuführen, daß unsere
Rucksäcke nur noch etwa 25 Kilogramm wogen - gegenüber 45 bis
48 Kilogramm am Anfang der Tour.
Damit war die eigentliche Bergexpedition
beendet, denn ab Muk standen uns wieder Verkehrsmittel für den Rücktransport
bis nach Ljachsch zum nächsten Inlandflughafen zur Verfügung.
Wir hatten Glück, auf der Ladefläche eines Lastkraftwagens diese
Strecke schon bald überbrücken zu können.
In Ljachsch angekommen, erhielten wir
zu unserer Überraschung ohne Schwierigkeiten Tickets für den
nächsten Flug nach Duschanbe. Eine schon altersschwache und völlig
überladene AN 2 (nach Auskunft des Piloten Baujahr 1947) beförderte
uns schließlich für 12,50 Rubel pro Person in geradezu abenteuerlicher
Weise an den Ausgangspunkt unserer Bergfahrt zurück.
Resümee
Wenn wir uns an die Pamir-Expedition von
1988 erinnern, wird deutlich, daß heute eine ähnliche Unternehmung
wohl kaum zu realisieren wäre. Abgesehen von den eingangs genannten
Schwierigkeiten bei der Anreise, trafen wir im Pamir selbst auf strapaziöse
und gefährliche Anmarschwege in einer vom Tourismus noch unberührten
Bergregion. Schließlich wurde jeder Meter in diesem relativ unbekannten
Gebiet zu Fuß und mit all unserer Ausrüstung zurückgelegt;
der Gipfel selbst erkundet und eigenständig bestiegen. Doch es war
vor allem auch eine Bergexpedition, wie sie (aufgrund der damaligen politischen
Situation) nur unter DDR-Verhältnissen stattfinden konnte.
Gerade heute, wo auch das durchorganisierte
Bergabenteuer käuflich zu erwerben ist, wird uns dies besonders bewußt
und das damals Erlebte so wertvoll. Waren wir doch im Pamir die ganze Zeit
von der Außenwelt abgeschnitten und völlig auf uns allein gestellt.
Bearbeitungsstand: Dezember
1997
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